
Vor Mathematik haben sie alle großen Respekt. Grundsätzlich erwerben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Teilqualifikationen (TQs) zum "Verkäufer/-in im Einzelhandel" bei der proviel GmbH den Stoff des Ausbildungsberufes aber angstfrei, betont Anja Kranenberg, als Abteilungsleiterin bei dem Wuppertaler Partner für Teilhabe am Arbeitsplatz zuständig für die Berufliche Bildung.
Das ist nicht selbstverständlich, denn proviel ist eine Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung. "Wir arbeiten mit Menschen, die schnell in die Überforderung gehen", so Kranenberg. "Viele haben mit dem Arbeitsmarkt keine positiven Erfahrungen gemacht und glauben nicht an sich. Wir versuchen, ein neues Grundvertrauen zu schaffen, und ermutigen unsere Mitarbeitenden mit niederschwelligen Angeboten, sich auszuprobieren."
Um das zu erreichen, schafft die gemeinnützige Gesellschaft Rahmenbedingungen, die es Betroffenen jeden Alters und verschiedenster psychischer Einschränkungen ermöglichen, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen: mit gut organisierten Prozessen, mit Begleitung – und mit intensiver beruflicher Qualifikation.
Als gefragter Industriedienstleister offeriert proviel eine breite Palette von Services – von der CNC-Metallbearbeitung über Lager und Logistik bis zur Wäscherei. Zudem betreibt das Unternehmen mit dem "CAP"-Frischemarkt Am Eckbusch einen Nahversorger in Wuppertal. Folgerichtig zählen zu seinen Bildungsangeboten auch Teilqualifizierungen für die Berufe Fachlagerist/-in, Verkäufer/-in und seit Neuestem auch für die Fachkraft für Metalltechnik.
Kranenberg sieht im Instrument Teilqualifikation eine "unfassbare Chance" – schon deshalb, weil es ein individuelles Lerntempo ermöglicht. "Die Teilnehmenden können sich an die Prüfungen herantasten und müssen sich nicht vorab auf ein Gesamtziel festlegen." Und das wird gern angenommen: Über die drei genannten Berufe hinweg nutzen bei proviel derzeit gut 30 Menschen die Möglichkeit, sich in kleinen Schritten ohne Druck das Wissen anzueignen, das ihnen im beruflichen Alltag weiterhilft – und im Bestfall sogar den entsprechenden Berufsabschluss ermöglicht. Denn der Lernstoff wird inhouse in einem geschützten Umfeld vermittelt: mit vertrauten Kursleitern, bedarfsgerecht und wenn nötig in mehreren Anläufen.
"Normalerweise kalkuliert man für die Vorbereitung auf eine Kompetenzfeststellung drei bis sechs Monate", verdeutlicht Kranenberg. "Aber wenn es länger dauert – aus welchen Gründen auch immer –, wird die Prüfung eben aufgeschoben." Das werde "im guten, flexiblen Austausch" mit der zuständigen Bergischen Industrie- und Handelskammer (IHK) in Wuppertal geregelt. Denn die nimmt das niederschwellig vermittelte Know-how dann "ganz normal" in den üblichen Kompetenzfeststellungen ab.
Mit dem IHK-Zertifikat verfügen die Teilnehmenden nach einer erfolgreich absolvierten TQ über einen objektiven Leistungsnachweis, der ihnen nicht nur auf den ersten Arbeitsmarkt helfen kann, sondern der auch "unglaublich begeistert und motiviert" – diese Erfahrung hat auch Carmen Bartl-Zorn gemacht, die in ihrer Funktion als Geschäftsführerin Aus- und Weiterbildung bei der Bergischen IHK seit rund zehn Jahren mit proviel zusammenarbeitet.
Die Ergebnisse sprechen Bände: "Beim Notendurchschnitt verzeichnen wir eine gute Tendenz zu einer 3+", berichtet Anja Kranenberg, "da werden auch viele Einsen erzielt, vor allem in der Praxis. Und das ist ja nichts Geschöntes, das gibt den Teilnehmenden enormen Mut. Viele sagen, dass sie sich das nicht zugetraut hätten."
Fünf der Absolventinnen und Absolventen von Verkäufer-TQs haben bereits alle Bausteine bestanden, beim Lagerlogistiker sind es zwei. "Geplant ist, dass sie dieses Jahr in die Externenprüfung gehen", so Kranenberg. Sollten sie auf diesem Weg ihren Berufsabschluss vollenden und damit deutlich leichter auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln können, wäre das der Abteilungsleiterin nur recht: "Das ist schließlich unser Plan und Auftrag." TQs seien dabei "ein tolles Konzept".
Das kann Carmen Bartl-Zorn nur unterstreichen. Die IHK-Geschäftsführerin ist beeindruckt von dem Eifer der proviel-Absolventen: "Sie sind noch mal ein Stück aufgeregter und glücklicher als etwa Azubis, die ihr Abschlusszeugnis erhalten", schildert sie ihre Eindrücke von den Prüfungen. Menschen mit Behinderung erlebt sie als überdurchschnittlich motiviert.
Gut so, denn fehlende Motivation sei der Hauptgrund dafür, dass die Potenziale von TQs oft nicht ausgeschöpft würden: "Das Instrument könnte vielen Menschen großartig in den Arbeitsmarkt helfen", erklärt Bartl-Zorn. "Die Praxis-Anteile ermöglichen Unternehmenskontakte, und die Kandidatinnen und Kandidaten können sich bedarfsorientiert aufstellen, sodass sie attraktiv für die Betriebe sind." Später könnten sie sich auf Wunsch immer noch fortentwickeln.
Dafür sei es sehr hilfreich, dass die TQ-Berufe der IHKs bundesweit abgestimmt seien – "egal, wo man das absolviert, es ist immer das Gleiche drin". Und auch dass die IHKs die Kompetenzfeststellungen übernehmen, hält Carmen Bartl-Zorn für nur folgerichtig: "Prüfen sollten nicht diejenigen, die ausgebildet haben."
Gemeinsam mit den IHKs könnten Bildungsträger also viele Menschen in Arbeit bringen. Jedoch hätten sie oft Probleme, motivierte Teilnehmende zu finden, bedauert die Bildungsexpertin. Deshalb wolle die Bergische IHK jetzt beginnen, auch mit weiteren Unternehmen zusammenzuarbeiten, die ihre an- und ungelernten Mitarbeitende qualifizieren möchten. "Da stimmt dann auch die Motivation – hoffentlich in so großartigem Ausmaß wie bei den Menschen von proviel."